Was ist die Gluten-Ataxie genau und seit wann ist dieses Krankheitsbild bekannt?

Der Weizenbestandteil Gluten kann bei Aufnahme mit der Nahrung Unverträglichkeitsreaktionen auslösen. Diese „Gluten-Unverträglichkeit“ kann unterschiedliche Ursachen haben. Ein Teil ist mit der Bildung sog. „Autoantikörper“ gegen körpereigene Enzyme, die sog. „Transglutaminasen“ assoziiert. Zu dieser Art von Erkrankungen zählt auch die „Gluten-Ataxie“, eine Erkrankung des Nervensystems mit Bewegungsstörungen bei erhaltener Kraft. Die bei der Gluten-Ataxie beobachteten Autoantikörper sind gegen die sog. „Neuronale Transglutaminase“ (syn. Transglutaminase 6) gerichtet.

Eine ähnliche autoimmunologisch bedingte Gluten-bezogene Erkrankung kennt man (i) für den Darm: die Zöliakie oder auch „Gluten-sensitive Enteropathie“ mit Autoantikörpern gegen Transglutaminase 2 und (ii) für die Haut: die Dermatitis herpetiformis Duhring (Morbus Duhring) mit Autoantikörpern gegen die Transglutaminase-3.

Unbehandelt schreitet eine Gluten-Ataxie mit immer stärkeren Symptomen fort: von anfänglichen leichten Bewegungsstörungen bis hin zu schweren unwillkürlichen Bewegungen. Die Symptome werden durch eine Schädigung des Kleinhirns ausgelöst. Durch eine frühzeitige Diagnose und eine strikte Gluten-freie Diät kann es in einigen Fällen zu einer Verbesserung der neurologischen Symptome kommen, zumindest kann das Voranschreiten der Erkrankung verlangsamt oder aufgehalten werden.

Eine der ersten wissenschaftlichen Veröffentlichungen zur Gluten-Unverträglichkeit in Verbindung mit neurologischen Symptomen stammt aus dem Jahr 1996 aus der Arbeitsgruppe um Marios Hadjivassiliou (Sheffield). Die Autoren wiesen damals darauf hin, dass sich bei Patienten mit Zöliakie (der Gluten-sensitiven Enteropathie; Darmerkrankung) häufig „neurologische Dysfunktionen“ („neurological dysfunctions“) finden und sie stellten die Hypothese auf, dass Gluten bei diesen neurologischen Störungen eine ursächliche Bedeutung zukommt. In der Folgezeit wurde von dieser Arbeitsgruppe der Zusammenhang zwischen Gluten-abhängigen Autoantikörpern gegen Transglutaminase-6 und neurologischen Störungen – insbesondere der Gluten-Ataxie – weiter erforscht und aufgeklärt.

Welche neurologischen Erkrankungen werden ebenfalls mit erhöhten anti-Transglutaminase 6 (anti-TG6) Autoantikörpern in Verbindung gebracht?

In der Tat ist die Gluten-Ataxie nicht die einzige Gluten-bezogene neurologische Erkrankung. Hadjivassiliou spricht deshalb im weiteren Sinne von „Gluten-related neurological disorders“ (GRND), also „Gluten-bezogenen neurologischen Störungen“ bei denen die „Gluten-Ataxie“ nur eine Erkrankungsform darstellt.

In einer Publikation aus 2019 von Zis und Hadjivassiliou wurden folgende neurologische Erkrankungen und Symptome mit Autoantikörpern gegen die neuronale Transglutaminase-6 in Zusammenhang gebracht:

  • Ataxie (Störungen der Bewegungskoordination bei erhaltener Kraft)
  • Periphere sensorische und senso-motorische Neuropathien
    (55% assoziiert mit Schmerzempfindungen)
  • Enzephalopathie
  • Epilepsie
  • Restless leg Syndrom
  • Chronische Kopfschmerzen/Migräne
  • Nystagmus
  • Milde kognitive Störungen
  • Myopathien (Creatin-Kinase Erhöhung)

 

Wie verbreitet sind anti-TG6 Auto-Antikörper als Zeichen einer „Zöliakie im Gehirn“ in Deutschland?

Der Ausdruck „Zöliakie im Gehirn“ ist etwas irreführend, da dieses Krankheitsbild als „Gluten-sensitive Enteropathie“ durch eine Krankheitsbeteiligung des Dünndarms charakterisiert ist: neben dem Nachweis von anti-Gliadin Antikörpern und Auto-Antikörpern gegen Transglutaminase 2 (TG2; die sog. „Gewebs-Transglutaminase“) ist für die definitive Diagnose einer Zöliakie der Nachweis einer Zottenatrophie mittels Duodenal-Biopsie gefordert (pathognomonisch).

Allerdings sind neurologische Symptome bei einer Zöliakie sehr häufig; diese neurologischen Erkrankungen sind ebenfalls Gluten-bezogen. Autoantikörper gegen die im zentralen Nervensystem vorkommende Transglutaminase 6 (TG6; „neuronale Transglutaminase“) können in diesen Fällen diagnostisch weiterhelfen.

Wichtig: Eine Zöliakie und Gluten-bezogene Erkrankungen des Nervensystems können, müssen aber nicht zusammen bei einem Patienten vorliegen: etwa 17 % der Patienten mit Gluten-bezogenen neurologischen Erkrankungen zeigen keine Symptome einer Darmerkrankung.

Umgekehrt heißt das aber auch, dass bei Patienten mit Zöliakie immer darauf geachtet werden sollte, ob neurologische Symptome vorliegen, bzw. ob im weiteren Verlauf der Erkrankung neurologische Symptome auftreten. Die Bestimmung der Transglutaminase-6 (TG-6) Auto-Antikörper kann deshalb bei Zöliakie-Patienten hilfreich sein, um eine (möglicherweise imminente) Gluten-bezogene Krankheitsmanifestation am ZNS zu erkennen.

Im „Ataxia Centre“ in Sheffield (England) wurde für die Gluten-Ataxie eine Prävalenz von ca. 15 % bei allen Ataxien und von mehr als 40 % bei den Ataxien mit unbekannter Ursache festgestellt. Auf Deutschland bezogen wären dies bei einer Häufigkeit („Prävalenz“) für Ataxien von 15 pro 100.000 Personen also etwa 2 Fälle von Gluten-Ataxie pro 100.000 Personen.

 

Ist bei den Betroffenen eine lebenslange, strikte glutenfreie Diät notwendig?

Durch eine frühzeitige Diagnose und eine strikte Gluten-freie Diät kann es zu einer Verbesserung der neurologischen Symptome kommen, zumindest kann das Voranschreiten der Erkrankung verlangsamt oder bestenfalls aufgehalten werden.

Die Gluten-freie Diät sollte unbedingt eingehalten werden, kombiniert mit einer regelmäßigen Kontrolle der anti-Gliadin Antikörper und der anti-TG6 Autoantikörper. Bei erfolgreicher Gluten-Vermeidung sollten nach 6 bis 12 Monaten keine positiven Antikörper-Titer mehr nachweisbar sein.

Ohne die strikte Einhaltung einer Gluten-freien Diät kommt es zum Fortschreiten der Erkrankung (Kleinhirn-Atrophie) und Verschlimmerung der neurologischen Symptome. Im Frühstadium der Erkrankung ist wohl eine Regeneration der Nervenfasern noch möglich, bei weiterem Fortschreiten der Erkrankung sind die Schäden irreversibel.

Die Patienten sollten diesbezüglich ausführlich aufgeklärt und durch Diät-Assistenz begleitet werden.

 

Werden die Untersuchungen von der gesetzlichen Krankenkasse übernommen?

Abrechnung ist im kassen- und privatärztlichen Bereich möglich.

 

Aktuelle Informationsquellen und Literaturstellen:

Sehr informativ sind im Internet verfügbare Vorträge ausgewiesener Experten im Bereich
„Gluten-bezogene neurologische Erkrankungen“.

Prof. Hadjivassiliou

State of the Art lecture: „Gluten Sensitivity: a disease of the brain”
3rd National Dietetic Gastroenterology Symposium
Sheffield June 18, 2021


Hier können Sie sich das Video anschauen.

 

Dr. Iain Croall

“Neurology and Celiac Disease and Gluten Disorders”
Virtual Conference of Canadian Celiac Association
May 2020

Hier können Sie sich das Video anschauen.

 

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Prof. Hadjivassiliou

“The neurology of gluten-related diseases and the brain imaging in gluten-related diseases”
April 29, 2015


Literaturstellen:

Zis and Hadjivassiliou

“Treatment of neurological manifestations of gluten sensitivity and coeliac disease”
Curr Treat Options Neurol (2019) 21:10

Mearns et al.

“Neurological manifestations of neuropathy and ataxia in celiac disease: a systematic review”
Nutrients (2019) 11:380

Vinagre-Aragon et al.

“Movement disorders related to gluten sensitivity: a systematic review”
Nutrients (2018) 10:1034

Hadjivassiliou et al.

“Effect of gluten-free diet on cerebellar MR spectroscopy in gluten ataxia”
Neurology (2017) 89:1-5

Hadjivassiliou et al.

“Neurological dysfunction in coeliac disease and non-coeliac gluten sensitivity”
Am J Gastroenterol (2016) 111:561-567

Mitoma et al.

“Consensus Paper: Neuroimmune Mechanisms of Cerebellar Ataxias”
Cerebellum (2016) 15:213-232

Hadjivassiliou et al.

“Gluten-related disorders: Gluten Ataxia”
Digestive Diseases (2015) 33:264-268

Hadjivassiliou et al.

“Transglutaminase 6 antibodies in the diagnosis of gluten ataxia”
Neurology (2013) 80:1740-1756

Catassi et al.

“Non-celiac gluten sensitivity: the new frontier of gluten-related disorders”
Nutrients (2013) 5:3839-3850

Sapone et al.

“Spectrum of gluten-related disorders: consensus on new nomenclature and classification”
BMC Medicine (2012) 10: 13

Hadjivassiliou et al.

“Dietary treatment of gluten ataxia”
J Neurol Neurosurg Psychiatry (2003) 74:1221-1224

Hadjivassiliou et al.

“Does cryptic gluten sensitivity play a part in neurological illness?”
Lancet (1996) 347(8998): 369-371